Digitale urbane Landwirtschaft

Digitale urbane Landwirtschaft: jahreszeitenunabhängig und fast emissionslos

Ein Beitrag von Gesche Ogursky und Anette Nickels im BMWi-Magazin: Wissenschaft trifft Praxis“, Seite 59 – 62:
Magazin: „Wissenschaft trifft Praxis: Digitale Geschäftsmodelle“ herunterladen

Wenn sich ein angelbegeisterter IT-Unternehmer, ein Gewächshäuser entwickelnder Physiker und ein energieerzeugender Landwirt zusammentun, was passiert dann? Im Falle von Eric Nürnberger, Franz Schreier und Stefan Ruckelshaußen entsteht daraus eine volldigitalisierte, geschlossene und aufeinander abgestimmte landwirtschaftliche Anlage, in der rund ums Jahr Salat, Kräuter, Fische und Krebse wachsen, ohne dass Ressourcen wie Energie, Wasser oder Nährstoffe verloren gehen. Ganz im Gegenteil: Eine ganze Menge Energie wird gespart und es entsteht fruchtbare „schwarze Erde“

Digitalisierter Kreislauf spart Dünger und Energie

Im südhessischen Wallerstädten, einer 13.000 Einwohner-Gemeinde in der Nähe von Darmstadt, entsteht derzeit ein „Food & Energy Campus“, auf dem – komplett digitalisiert – die Erzeugung erneuerbarer Energien mit dem Betrieb von Aquakultur und Aquaponik sowie der ökologischen Landwirtschaft verbunden werden. Jedes vermeintliche Abfallprodukt eines Prozesses wird im nächsten Schritt wieder als Rohstoff eingesetzt, so dass keine Ressourcen verloren gehen. Biogasanlage, Fischzucht, Gemüseanbau und die Erzeugung von „schwarzer Erde“ laufen in einem digitalisierten Kreislauf.

Der Einsatz fossiler Energien oder überregional zu beschaffender Stoffe, wie Dünger und Pflanzenschutzmittel, soll konsequent vermieden werden. „Es ist uns eine Herzensangelegenheit, natürliche Energie-, Stoff- und Lebenskreisläufe bedingungslos zu respektieren und synergetisch zu nutzen“, sagt der Initiator des Campus, Eric Nürnberger. Er hat vor allem Erfahrung mit der Zander-Zucht: In nur wenigen Jahren hat der Gründer der Fischmaster IP-Services GmbH eine volldigitalisierte Indoor-Fischzucht aufgebaut. Begonnen hat er die Digitalisierung mit Sensoren an risikobehafteten Stellen seiner sensiblen Fischzucht. Inzwischen überwachen mehr als 1.000 Sensoren Aspekte wie Wasserqualität, Temperatur und vieles mehr in und an den Becken. Nun widmet sich Eric Nürnberger gemeinsam mit seinen Kollegen zusätzlich dem „Food & Energy Campus“, da spielen die Fische auch eine Rolle, aber dazu später mehr.

Die Biogasanlage

Alles begann mit dem Gedanken darüber, was in elf Jahren mit der Biogasanlage passieren soll, wenn die zwanzigjährige Förderung der Stadtwerke Groß-Gerau ausläuft. Man suchte nach Lösungen. Stefan Ruckelshaußen, „mit Herz und Seele Landwirt“, führt neben seinem Anbaubetrieb auch die Geschäfte der Ingenia GmbH, die die Biogasanlage betreibt. Diese ist das zentrale Element des Food & Energy Campus. In zwei Blockheizkraftwerken mit einer Gesamtleistung von 1.086 Kilowatt wird das Biogas in Strom umgewandelt. Die jährlich erzeugten rund neun Millionen Kilowattstunden reichen aus, um etwa 2.300 Haushalte mit elektrischer Energie zu versorgen. Die Abwärme in der gleichen Größenordnung wird die Gewächshäuser des neuen Campus heizen. 50 Landwirte, die in einem Radius von etwa zehn Kilometern um die Vergärungsanlage wirtschaften, liefern jährlich 24.000 Tonnen Energiepflanzen wie Mais, Grünroggen, Zuckerhirse und Zuckerrüben gemäß dem Erneuerbare-Energie-Gesetz. Als Reststoff der Biogasproduktion entstehen etwa 20.000 Kubikmeter flüssige Gärreste, die bisher in einem Radius von bis zu 15 Kilometern als Dünger auf landwirtschaftliche Flächen ausgebracht wurden.

Die mehr als 1.000 Lastwagen pro Jahr belasten die Ortschaften der Umgebung mit Lärm, Abgasen und Staus. Auch sind Gärreste auf Feldern nicht unproblematisch: Der enthaltene Stickstoff kann als Treibhausgas in die Atmosphäre entweichen und im Boden als Nitrat das Grundwasser belasten. Ein weiterer Nachteil der Gärreste für die Umwelt: Nur maximal zehn Prozent sind Feststoffe. Also wurden bisher beim Transport auf die Felder mehr als 90 Prozent Wasser von A nach B bewegt. Dafür gibt es jetzt eine bessere Lösung: Auf dem Food & Energy Campus werden die Gärreste mit digitalisierten Filtermethoden so behandelt, dass Wasser und Feststoffe getrennt werden. Das Wasser kann zum Gießen oder in der Aquakultur zur Fischzucht genutzt werden.

Die verbleibenden Feststoffe werden im Pyrolyse-Verfahren auf dem Campus direkt vor Ort zu Pflanzenkohle veredelt. So werden gleich mehrere Probleme der GärrestVerwertung gelöst: Es wird weniger Benzin für LKW verbraucht und Treibhausgase und die Nitratauswaschung in das Grundwasser werden vermieden. Das bislang ineffizient genutzte Wasser aus den Gärresten bleibt im Kreislauf erhalten. Zudem werden die Gärreste in hochwertige Pflanzsubstrate verwandelt, die so genannte „schwarze Erde“. Die noch ungenutzte Abwärme aus dem Blockheizkraftwerk sorgt für das Klima in den Gewächshäusern. Dadurch werden die Reststoffe der Biogasanlage zur Grundlage für die Produktion von Obst und Gemüse.

Digitalisierte Nährstoffzufuhr

Chinakohl braucht für sein Wachstum beispielsweise mehr Eisen als Basilikum. Welcher Nährstoff für welche Pflanze in welcher Konzentration vorhanden sein muss, wissen die Sensoren und geben so viel Nitrat, Nitrit, Ammonium, Eisen und Algen ins Wasser, wie benötigt. Auch den pH-Wert regeln Sensoren, indem sie die Zufuhr von Salzsäure aus einem angeschlossenen Container steuern. Die Pflanzen wachsen ab 2017 in vier 700 Quadratmeter großen aufblasbaren Gewächshäusern aus Japan. Sie werden in riesigen runden Beeten auf einer wässrigen Lösung, einer Hydrokultur, von der Mitte aus in Schienen „gepflanzt“. Von dort „wandern“ sie innerhalb von 30 Tagen nach außen, wo sie geerntet werden (Stichwort „granpa dome“). Pro Woche können so 5.000 Köpfe Salat in Bioqualität produziert werden, unabhängig von der Jahreszeit. Denn in den energieeffizienten Gewächshäusern werden Licht und Schatten automatisiert geregelt.

Die Aquakultur 4.0

Genauso verhält es sich mit der Aquakultur. Auf dem Campus soll in geschlossenen digitalisierten Kreislaufanlagen Fisch in regionaler Aquakultur gezüchtet werden. Der Fisch wird in Becken in den Gewächshäusern und in separaten Gebäuden wachsen. Er bleibt damit vor den Temperaturschwankungen der Jahreszeiten geschützt. So wird eine ganzjährig gleichmäßige Produktion gewährleistet. Ziel ist es, Zandersetzlinge mit einem Gewicht von etwa 20 Gramm bis zu einer finalen Größe von einem Kilogramm nicht mehr „anzufassen“. Damit wird der Stress für die Tiere durch manuelle Sortierung verringert und das Wachstum nicht gestört. Hierfür wird eine neue Anlage entwickelt, die eine digitalisierte Fischsortierung ermöglicht und gleichzeitig mit einem Fütterungssystem gekoppelt ist. Eine intelligente Verbindung von relevanten Daten wie Wasserqualität, Temperatur, Größe und Gewicht sowie Futtermengen sollen zusammengeführt und überwacht werden.

Das Wasser der Becken wird in einem digital gesteuerten Kreislauf über Filtervorrichtungen gereinigt und bleibt sauber für die Fische. So werden Nährstoffe aus den Fischabwässern gesammelt und der Pflanzenproduktion zugeführt. Das spart mineralische Dünger. Das Hauptprodukt der Aquakultur ist der Zander. Er gilt als wichtiger und wertvoller Speisefisch, ist aber als scheuer und vorsichtiger Fisch von Anglern schwer zu überlisten. Zudem ist seine Zucht schwierig, da er auf Umgebungsfaktoren sensibel reagiert. „Ein prädestinierter Fisch also für unsere digitalisierte Zucht“, sagt Eric Nürnberger, „denn wir können alle Lebensbedingungen vom Licht über das Wasser bis zur Temperatur genauestens steuern. Am Anfang sind viele Fische gestorben, aber inzwischen können wir das Lebensumfeld des Zanders so optimal wie möglich gestalten.“

Die Aquaponik

Die nährstoffhaltigen Abwässer aus der Fischzucht werden aufbereitet und innerhalb eines aquaponischen Systems für den Pflanzenbau genutzt. Aquaponik bezeichnet das Verfahren, bei dem die Aufzucht von Fischen und Krebsen mit der Produktion von Nutzpflanzen so verknüpft wird, dass beide Nutzungssysteme sich in einem geschlossenen System ergänzen.

Schwarze Erde und Biokohle

Auf dem Food & Energy Campus wachsen die Pflanzen aber nicht nur in Aquaponik, sondern auch auf „schwarzer Erde“, die mit den Fischabwässern angereichert wird. Dafür werden die Nährstoffe mit Hilfe von Kohle aus den Abwässern herausgefiltert und dann zu der hochwertigen Erde verarbeitet. Der Grund: In der Aquaponik ist der Nährstoffnachschub für die Pflanzen dann ein Problem, wenn die zu den Pflanzen gehörigen Fische in den Verkauf gehen und keine Nährstoffe mehr liefern. Deshalb werden parallel Pflanzen auf schwarzer Erde angebaut, um eine durchgängige Produktion von Kräutern und Gemüse zu gewährleisten. Mit Hilfe einer Pyrolyse-Anlage werden die Gärreste der Biogasanlage unter zusätzlichem Energiegewinn zu Biokohle umgewandelt. Pyrolyse ist ein Verfahren, bei dem organische Stoffe mit Hitze und ohne Luft verkohlt werden. Diese Kohle wird in den Filteranlagen der Aquakultur das Wasser reinigen und gleichzeitig mit Nährstoffen anreichern. Die so beladene Biokohle ist ein nährstoffreiches Substrat, das zur Herstellung von fruchtbarer Erde geeignet ist.

Diese fruchtbare Erde ist als „schwarze Erde“ oder Terra Preta bekannt. Auf dem Food & Energy Campus wird Terra Preta nach dem Verfahren der Palaterra Betriebs- und Beteiligungsgesellschaft mbH hergestellt. Mitarbeiter des Unternehmens waren beteiligt, als das Verfahren der Indios entschlüsselt wurde, mit dem diese die Terra Preta herstellten. Das Unternehmen produziert heute ähnliche Substrate unter dem Namen Palaterra. Die Merkmale entsprechen weitgehend den physikalischen, chemischen, mikrobiellen und biologischen Bodeneigenschaften der Terra Preta. Sie verbessert nicht nur die Bodenfruchtbarkeit, sondern ihre Herstellung ist auch eine verlässliche Methode der Kohlenstoff-Sequestrierung: Der Atmosphäre wird CO2 entzogen und nutzbringend im Boden gebunden.

Die Gewächshäuser

Neben den oben erwähnten Gewächshäusern aus Japan wird es etwa 30 Gewächshäuser des Physikers im Team, Franz Schreier, auf dem Food & Energy Campus geben. Er beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Frage, wie ein gutes Energiemanagement in die Nahrungsmittelproduktion integriert werden kann, um negative Energiebilanzen zu vermeiden.

Mit dem aquaponischen Solar-Gewächshaus „Sun Light Greenhouse“ hat der Geschäftsführer der ebf GmbH einen Raum realisiert, in dem Lebensmittel und Energie erzeugt werden können. Für die West-, Ost- und Nordwand des Gewächshauses werden massive Baustoffe als Dämmmaterial verwendet. Diese Konstruktion hilft, Temperaturschwankungen im Inneren des Gewächshauses zu puffern und den Heizbedarf zu reduzieren. Ein Belüftungssystem reduziert – unter Verwendung eines Erdwärmetauschers – den Bedarf an Energie für ein Beheizen oder Kühlen des Gewächshauses. Es wird eine Folie eingesetzt, die das gesamte Tageslichtspektrum zu den Pflanzen durchlässt. Das ermöglicht, eine Photovoltaikanlage im Inneren des Gewächshauses zu platzieren, die hier vor direkten Umwelteinflüssen wie Schmutz oder Hagelschauern geschützt ist. Die Elemente sind beweglich und können sowohl zur Beschattung der Pflanzen als auch zur Stromproduktion multifunktional ausgerichtet werden. Geplant ist auch, überschüssige Pflanzen von dort zu beheimatenden – komplett undigitalisierten – Hühnern und Kaninchen fressen zu lassen. So schließt sich der Kreislauf, zum Schluss sind Natur und Technik optimal aufeinander abgestimmt.

0 Antworten

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Wollen Sie an der Diskussion teilnehmen?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert